Montag, 6. Februar 2012
Die 100 besten Filme – 18. Into the wild
Kritiker haben Sean Penn gelegentlich vorgeworfen, dass er sich zu sehr vom Mythos um seine Hauptfigur mitreißen lässt und „Into the wild“ damit zum glorifizierenden Möchtegern-Epos verkommt. Auch die Entscheidung für Eddie Vedder als Lieferant für den Soundtrack ist ganz gern mal kritisiert worden. Und schließlich hat man auch dem Hauptdarsteller Emile Hirsch hier und da eine stereotype, seelenlose Darstellung des Chris McCandless bescheinigt.

Abgesehen davon haben aber die meisten Kritiker den Film recht wohlwollend aufgenommen, wenngleich den Vorwurf der Glorifizierung eigentlich beinahe jeder gemacht hat. Für mich liegt das Problem solcher Kritik immer darin, dass diese sich an der vermeintlich „echten“ Geschichte abarbeitet und dem Film dann jede Übertreibung, jede Freiheit anlastet. Wie schon des Öfteren erwähnt, habe ich kein Interesse an einer derartigen Realitätstreue. Ein Hollywoodfilm soll unterhalten, mich rühren, zum Nachdenken anregen. Wenn ich Realitätstreue will, recherchiere ich im Netz oder lese ein Buch, vielleicht sehe ich auch eine Doku.

Und so sind es gerade jene Kritikpunkte, die den Film für mich so herausragend machen. Chris wird auf wunderbare Weise mystifiziert und glorifiziert, was nicht heißt, dass wir einen Helden ohne Schwächen vorfinden. Eddie Vedders Musik gibt dem Film so etwas wie Seele und ergänzt in dieser Hinsicht das großartige Spiel von Emile Hirsch. Dieser schließlich mimt den Chris Mc Candless derart kompromisslos und verspielt, dass man meint, Clint Eastwood hätte hinter der Kamera gestanden. Ein größeres Kompliment kann man dem Regisseur eigentlich nicht machen: Sean Penn hat hier ein Meisterwerk abgeliefert, das keine Längen oder Schwächen aufweist und unheimlich tief unter die Haut geht.

Auch wenn wir uns oft an der Grenze zum Kitsch bewegen, z. B. wenn Chris bei seinen Tierbeobachtungen zu Tränen gerührt wird, wenn die Eltern ihren Sohn am Ende – virtuell – wieder in die Arme schließen oder die Postkartenlandschaft immer wieder durch zu perfekt passende Briefausschnitte und Musik trivialisiert wird: Into the Wild kann mit dieser Gefühlsduselei ohne weiteres umgehen, niemals käme ich auf die Idee, dem Film dies vorzuwerfen. Man soll ganz offensichtlich zu Tränen gerührt werden, für Scheinheiligkeit ist, ganz in Mc Candless Sinne, kein Platz im Film.

Der Film hat allerdings immer noch genügend dezente Botschaften und Widersprüche für den Zuschauer. So wird uns erst am Ende klar (und auch nur, wenn wir genau hingesehen haben), dass wir es keineswegs mit einem tief greifenden „back to nature“-Epos zu haben, sondern dass der Film weitergeht und uns äußerst brutal auf das hochaktuelle Paradox hinweist, dass eine zivilisierte Gesellschaft, die ökologisch kommuniziert, aufbaut: Die Zerstörung bzw. Zivilisierung der Natur war und ist die Bedingung der Möglichkeit, überhaupt über sie nachdenken und zu ihr „zurückkehren“ wollen zu können. All die Bücher, die Chris Mc Candless inspiriert haben und deren Botschaft er so konsequent vertrat und lebte, sind Produkte jenes Prozesses, den sie kritisieren. Denkt man im Anschluss an den Film dieses Paradox weiter, so gelangt man unweigerlich zu der Erkenntnis, dass auch die Figur Mc Candless ein Produkt dessen ist, was er kritisiert und dem er sich zu entziehen versucht.

Dass ihm dies nicht gelingt, sondern er letztlich umso mehr zurück möchte in die einst verhasste zivilisierte Welt und bei diesem Versuch der Rückkehr auch noch sein Leben lässt, erinnert an die Tragödien von Ödipus oder Hamlet. Die Geschichte, die Into the Wild erzählt, braucht sich also keineswegs zu verstecken und Sean Penns Verfilmung ebenso wenig.

Kein Text über Into the Wild, der nicht Hal Holbrook erwähnt: Die oskarnominierte Nebendarstellung des großartigen alten Haudegens raubt allen, die den Film sehen, den Atem. In den wenigen Minuten, die er uns neben dem Hauptdarsteller gegönnt wird, entwickeln sich die besten Dialoge des Films und Holbrook führt in diesen auch Emile Hirsch zu schauspielerischen Höhen, die das junge Talent im restlichen Film selten erreicht.

Meine Lieblingsszene ist allerdings jene, in der Mc Candless sich dazu entschließt, den Heimweg anzutreten. Die Erkenntnis, dass er den wahren Wert des Glücks nur schätzen kann, wenn er es mit anderen teilt, lässt ihn sein Wildnis-Experiment abbrechen und in Richtung Heimat ziehen. Untermalt vom wunderbaren „No ceiling“ Eddie Vedders spielt der Film an dieser Stelle auf gemeinste Art mit den Emotionen des Betrachters, denn die von Mc Candless ach so geliebte Natur schiebt der Heimreise schließlich einen Riegel vor und führt zum unvermeidlich tragischen Ende (welches ebenfalls exzellent inszeniert wird).

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass der Film voll von Szenen ist, die einem noch lange im Magen liegen. Into the Wild vergisst man nicht so leicht, er beschäftigt einen noch ein paar Tage oder Wochen. Für alle Fälle sollte man ihn nachmittags schauen und sich danach noch leichte Kost a la „50 erste Dates“ reinziehen. Ansonsten könnte einem der Nachtschlaf von unkontrollierbaren Nachdenk-Anfällen vermiest werden.

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